In den Tag hineinleben

Gestern Abend ist es passiert. Ich saß vor meinem PC, schrieb auf Skype eine Nachricht an meine Tochter Lisa und wusste nicht mehr, welchen Wochentag wir haben. Ich konnte nur noch greifen, dass es „während der Woche“ sein muss und nicht Wochenende, doch auch bei allem hektischen Nachdenken fand ich keine terminlichen Anhaltspunkte in meinem Kopf, an denen ich hätte festmachen können, ob nun Dienstag oder Mittwoch oder Donnerstag ist.

Der Adrenalinspiegel stieg kurzzeitig an. Denn bisher hatte ich immer genau gewusst, welchen Wochentag wir haben, da ich jeden Tag ganz unterschiedliche, berufliche Termine und Veranstaltungen hab und darum ist mein Terminkalender für die nächsten Tage immer in meinem Kopf, um nur ja auf keinen zu vergessen. Und selbst wenn ich in den nächsten Tagen keinen konkreten Termin hatte, dann waren in meinem Kopf doch die Veranstaltungen und Termine der nächsten Woche.

Schon am Montag bin ich, nachdem ich alle beruflichen und persönlichen Termine bis auf Weiteres abgesagt hatte, mit einer gewissen Faszination vor meinem für Wochen leeren Terminkalender gesessen. Mehrmals hab ich die Seiten durchgeblättert, mir all die durchgestrichenen Termine angeschaut, dies auch nochmals am Dienstag in der Früh getan, bis es tatsächlich in mich einsickerte, dass ich jetzt wirklich einfach mal dort bleiben kann und sogar soll und muss, wo ich am liebsten bin: hier daheim am Haunsberg!

Es dauerte einige Minuten, bis ich gestern Abend realisierte, was da vor sich geht mit mir: ich bin in die Zeitlosigkeit gerutscht! Nach nur drei Tagen Corona-Shutdown. Schlagartig wich der innerliche Stress einer tiefen Dankbarkeit. Und ich fragte mich, wann ich einen solchen Zustand das letzte Mal erlebt haben mag?

Aufgetaucht ist ein Bild, ein Gefühl aus meiner Kindheit. Aus jener Zeit, als ich noch nicht zur Schule ging. Als ich hier am „Hasberig“ aufwuchs und Nußdorf „so weit weg, so weit unten“ für mich war. Kindergarten gab es damals noch keinen in Nußdorf und so lebte ich, eingebunden in den jahreszeitlichen Kreislauf des kleinen Sacherls, das mein Großeltern bewirtschafteten, zwischen Kühen und Schwedenreitern, die ich nicht mochte, solange wir das nasse Gras aufhängen mussten, doch zum Durchschlüpfen und Verstecken spielen liebte, sobald sie abgetrocknet waren.

Ich erinnere mich immer wieder an einen Sonntagnachmittag, an dem ich mit meiner Oma Ida am Waldrand unten beim alten Forsthaus saß und hinunter auf die Landstraße nach Weitwörth blickte. Sie kam mir so unendlich weit weg vor, so in weiter Ferne.

Ob ich mich damals auch so zeitlos gefühlt habe wie gestern Abend, ich weiß es nicht mehr. Doch einmal, da ist mir dieser Zustand der Zeitlosigkeit als Mädchen so sehr bewusst geworden, dass sich mir diese Erfahrung zeitlebens eingebrannt hat. Ich streifte um den Wurzgarten meiner Oma herum, stopfte die dicken, roten Himbeeren in meinen Mund, schleppte meine zerfledderte Lieblingspuppe mit mir herum und dachte, dass dieser paradiesische Zustand immer so bleiben wird. Dieser Sommer kam mir damals „ewig“ vor.

Ob es der letzte oder doch schon der vorletzte Sommer vor meinem Schulbeginn war, kann ich nicht mehr sagen. Ich verbinde diesen Sommer mit der Schule deswegen, weil es, als ich dann zur Schule ging, nie mehr so einen Sommer gab für mich. Neun Wochen Ferien eignen sich nicht mehr zur Ewigkeit, diese schmerzvolle Erfahrung musste ich Jahr für Jahr wieder machen. Und doch habe ich mich seither, das ist mir gestern Abend auch bewusst geworden, immer danach gesehnt, einfach mal wieder so in den Tag hineinleben zu können, wie damals in diesem Sommer in den 70iger Jahren hier am Haunsberg.

Von Renate Fuchs-Haberl

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